Samstag, 2. Oktober 2010

Definition von Antiklimax

Ich versuchte damals zu schreiben, und ich fand, dass die größte Schwierigkeit – außer ehrlich zu wissen, was man wirklich fühlte und nicht einfach das, was man fühlen sollte oder was man zu fühlen gelernt hatte  – darin bestand, niederzuschreiben, was wirklich bei einer Handlung geschah; was es tatsächlich war, was die Gefühlsregung, die man verspürte, hervorrief. Wenn man für eine Zeitung schreibt und berichtet, was geschah, vermittelt man mit Hilfe des aktuellen Zeitelements, das ja jedem Bericht über ein Tagesgeschehen einen gewissen Gefühlsgehalt verleiht, eben jene Gefühlsregung. Aber die Sache selbst, die Folge aus Bewegung und Sachverhalt, welche die Gefühlsregung hervorruft, und die in einem Jahr oder in zehn Jahren noch ebenso gültig sein würde, oder mit etwas Glück, und wenn man es rein genug ausdrückte, immer, lag jenseits meines Könnens, und ich arbeitete angestrengt darauf hin, das zu erreichen. Der einzige Ort, wo man Leben und Tod sehen konnte, das heißt gewaltsamen Tod, war die Arena, da die Kriege vorbei waren, und ich wollte brennend gerne nach Spanien, wo ich das studieren konnte. Ich versuchte, schreiben zu lernen, indem ich mit den einfachsten Dingen begann, und eines der allereinfachsten Dinge und das fundamentalste ist der gewaltsame Tod. Er hat keine der Komplikationen des Todes durch Krankheit oder des sogenannten natürlichen Todes oder des Todes von einem Freund oder von jemandem, den man geliebt oder gehaßt hat, aber es ist der Tod nichtsdestoweniger, und er ist eines der Themen, über die man schreiben kann. Ich hatte viele Bücher gelesen, in denen der Autor, wenn er einem einen Begriff von ihm geben wollte, nur etwas verschwommenes hervorbrachte, und ich kam zu dem Schluß, dies sei entweder so, weil ihn der Autor niemals deutlich gesehen hatte, oder weil er in dem Moment tatsächlich oder im Geist die Augen schloß, wie es einer vielleicht tut, wenn er ein Kind sieht, das in wenigen Sekunden von einem Zug überfahren werden wird, ohne dass er ihm zu Hilfe eilen und es retten kann. Ich glaube, er wäre in solch einem Fall berechtigt, die Augen zu schließen, da die bloße Tatsache, wie das Kind im Begriff steht, von dem Zug überfahren zu werden, alles ist, was er vermitteln kann; das tatsächliche Überfahrenwerden würde eine Antiklimax sein, so daß der Augenblick vor dem Überfahrenwerden das Äußerste sein dürfte, was er zu beschreiben vermag. Aber im Fall einer Hinrichtung durch Erschießen oder Hängen trifft dies nicht zu, und wenn der Versuch gemacht werden soll, diese sehr einfachen Dinge für immer gültig festzuhalten, geht es nicht mit irgendwelchem Augenzukneifen.

Text aus „Tod am Nachmittag“
(Original: „Death in the Afternoon“ / 1932)
von Ernest Hemingway